Humoralpathologie - was ein Herr von Bünau uns nach 300 Jahren zur "Fontanelle" verrät...


Es ist wieder an der Zeit, die Medizin in der Zeit Augusts des Starken näher zu betrachten! Um die Hintergründe besser zu verstehen empfehle ich Ihnen, meinen Artikel zu den Barocken Heilmitteln zuerst zu lesen, denn auf diesem baut der heutige Artikel auf. Aber worum soll es heute gehen? Und wie kann ein Herr von Bünau nach 300 Jahren noch etwas zur Medizin seiner Zeit verraten und mich letztendlich zu einer ganz anderen Erkenntnis führen, nach der ich gar nicht suchte?

 

Es war ein Artikel im Jahrbuch der Denkmalpflege 2018, der mich neugierig machte. Die Grablege derer von Bünau war mir im Zusammenhang mit meinen Führungen im Schloss Weesenstein ein Begriff- die Adelsfamilie gilt als der "Konkurrent" der Wettiner im Mittelalter, es ging bis zur Dohnaer Fehde. Seit dem Jahre 1166 prägten die vielen Günther, Heinrich und Rudolf von Bünau ein mächtiges Adelsgeschlecht bis ins Böhmische und darüber hinaus, und die Familie existiert bis heute. Das macht sie zu einer der interessantesten Quellen für die Forschung zu den Wettinern und deren "Zeitgeschichte". Manchmal verraten uns die Wettiner nicht alles- aber die Konkurrenz lebte unter den gleichen Umständen. Im Falle einer Krankheit standen ihnen dieselben Heilmittel und dasselbe fachliche Wissen zur Verfügung- womit sie sich natürlich von der Volksmedizin der damaligen Zeit abheben. Ein August der Starke wurde wohl nicht von einem Kräuterweib behandelt- er hätte sich den höchsten Ärzten ausgeliefert gesehen- mit all ihren teils dubiosen Anwendungen. Und um eine dieser Heilmethoden soll es heute gehen- die Fontanelle.

 

Eine Adelsgruft als Zeitkapsel des Barock

Die Gruft der Herren von Bühnau, die auf dieser Webseite erstmals in diesem Artikel erwähnt wird und die auch in Zukunft Quelle sehr interessanter Erkenntnisse sein wird befindet sich unter der Burkhardswalder Kirche bei Pirna. Wohl um 1600 kam es zur Anlage einer Begräbniskapelle mit unterirdischer Gruft unter Rudolph III. von Weesenstein. Vorher bestand bereits eine kleine Saalkirche. Die Grablege wird nur bis 1752 von den Bünaus genutzt- und genau dieser Umstand macht diese Gruft so bedeutend. Zum Ende des Barock / Rokoko (ca. 1760) wird diese Grablege zur Zeitkapsel- der Zugang wird später sogar überbaut werden, 1927 sollte sie aufgelöst und die Särge der Bünaus auf dem Friedhof bestattet werden, Jahrzehnte des Vandalismus folgten. In dieser Zeit verschwanden sicherlich einige wichtige Grabbeigaben, der Zustand muss katastrophal gewesen sein, denn die Grabräuber kannten keine Pietät und nur der endgültige Verschluss des Zugangs mit einer Betonplatte schien die Lösung zu sein.

 

Die toten Bünaus werden in diesem verschlossenen, nicht durchlüfteten ewigen Grab keine gute Zeit haben- die Luftfeuchtigkeit und der damit beginnende Zersetzungprozess der ursprünglich für die Ewigkeit bestimmten mumifizierten Körper wurde erstmals 2005 bemerkt und vom Pastor gemeldet- nichts geschah. Erst 2011 kommt es zur offiziellen Begehung durch die damalige Pastorin und ihren Ehemann- und von da an wird klar, wie kulturhistorisch bedeutend diese Grablege für Sachsens Geschichte ist und das dringend -wortwörtlich!- Ordnung in das Chaos der toten Leiber gebracht werden muss! Der Artikel des Jahrbuchs zeigt die Details der Maßnahmen.

 

Eine Mumie verrät Medizinpraxis

Während des Lesens des archäologischen Berichts sprang mich ein Detail plötzlich an: der Fund eines Fontanellenblechs am rechten Arm einer männlichen Mumie. Gerade hatte ich den Artikel zur Barocken Heilkunst verfasst, wusste ein wenig von der Theorie der Galenschen 4-Säfte-Lehre. Und nun die Erwähnung dieses archäologischen Nachweises, das dieser Mann nach humoralpathologischer Sicht behandelt worden war- er ein kleines Blech mit Lederriemen am Arm trug. Das klingt alles zu obskur? Woher wissen wir, das dieses erhaltene kleine Blech etwas mit Medizin zu tun hat? Woran litt der Adlige und starb er eventuell an den Folgen der Krankheit, die die Ärzte dazu veranlasste, ihm dieses "Heilmittel" zu empfehlen?

 

Die Materia Peccans und ihr Nutzen zur Heilung

Quelle: Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1998086
Quelle: Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1998086

Der Begriff "Fontanellenblech" fällt in dem Artikel- und man findet ihn nicht in der modernen Sprache, da die Fontanelle heute die dünne, noch nicht zusammen gewachsene Stelle am Kopf eines Kleinkindes ist.

 

Genau dieser Umstand der neuen Begrifflichkeit hat sich als Hindernis dargestellt- wie findet man eine medizinische Methode, wenn sie seit fast 3 Jahrhunderten  nicht mehr angewendet wird- und man keinen Arzttitel erworben hat, um auf Studiums-Wissen zurückgreifen zu können? Nähern wir uns doch einmal über die Logik an:

 

Der Stoff, der ausgeschieden werden muss, weil er krank macht, ist laut Säftelehre die Materia Peccans. Sie steht im Zusammenhang mit Geschwüren, dem Eiter- eben der Gelben Galle.

 

Um zu verstehen, wie man damals dachte, hilft ein Blick in ein Lexikon der Zeit des Barock- dem Wikipedia vor den Zeiten des Internets und noch vor dem Brockhaus. Der "Zedler", auf den ich hier zurückgreife existiert heute zum Glück in gut lesbarer, digitaler Form (1731-1754) und ist somit für jeden Hobby-Historiker mit Corona-Hausarrest frei zugänglich. Da er den Begriff Materia Peccans kennt, schien es mir logisch, das er auch andere medizinische Begriffe des Barock beschreibt- und siehe da, die Fontanelle präsentiert sich hier als das gesuchte Objekt der Humoralpathologie- in allen Details barocker Heilkunst und viel ausführlicher, als ich es vermutet hätte, weshalb ich hier nur Auszüge präsentieren kann, die sich speziell auf die Fontanelle unserer Bünauer Mumie beziehen: 

 

"Fontanell, Fontanella, Fonticulus, wird genennet ein kleines Geschwür, welches durch die Chirurgie zur Gesundheit des Menschen , an verschiedenen Theilen des Leibes pfleget gemacht zu werden; allein weil die Natur offt von selbsten solche Geschwüre machet, und dadurch die Patienten von vielerlei Krankheiten befrevet,so haben die Medici der Natur in diesen Stück wollen nachahmen, und scheinen hiervon die Fontanelle ihren Anfang oder Ursprung genommen zu haben. Die Orte oder Plätze, wo man selbige machet, sind (...) 3.auf denen Armen am Ende des Chusculi Deltoides oder zwischen dem Deltoides und Biceps, als an welchen Orten die Fontanelle heut zu Tage am gebräuchlichsten (...)"

 

Der Artikel beschreibt dann die Arten, wie die Fontanelle angelegt wird, darunter die einfachste Methode des Aufritzen der Haut, das Einbringen des Fremdkörpers, zum Beispiel einer Erbse oder eines Metallkügelchens (es gab auch Fontanellen-Kügelchen aus Wachs mit Hedera arborescente- Efeu!) und dem Daraufsetzen eines Pflasters mit Binde zum Fixieren. Brutaler wird es dann in Verbindung mit der Verwendung eines Brenneisens (Cauterum), das die Haut zusätzlich reizen soll. Auch dabei wird im Anschluss die Wirkung durch den 2mal täglich zu wechselnden Fremdkörper erzielt.

 

Die dritte Version ist ein Pflaster mit einem kleinen Loch, durch welches ein ätzendes Mittel wie z.B. der sogenannte "Höllenstein" (Lapis infernalis, heute: Silbernitrat) eingebracht wird- heute noch ist dieses Mittel in der Medizin bekannt- allerdings soll es antiseptisch wirken, womit seine Wirkung eigentlich entgegengesetzt der Säftelehre ist und eine Vereiterung eher verhindern würde. Da man es nur 6-8 Stunden einwirken ließ, um einen Grind zu erzeugen, diesen entfernte und dann wieder die bekannte Erbse folgt, um die Entzündung aufrecht zu erhalten, klärt sich dieser Widerspruch schnell.

 

Es ging nicht um das Heilen der Wunde, sondern um ein bewusstes Erzeugen eines Eiterherdes- für unser heutiges Verständnis völlig abstrus, damals logisch vom Körper abgeschaut, der eben nach einer Verwundung mangels Desinfektion reagierte und die abgestorbenen, schädlichen Bakterien und den Schmutz abstieß.

 

"Anstatt der Binde hat man mehrerer Bequemlichkeit halber, besondere Machinen oder Bandage von Blech oder Meßing mit Riemen oder Häcklein erfunden,damit sich die Patienten desto bequemer selbst verbinden können, dergleichen verschiedene bey denen Auctoribus abgezeichnet. Unter welchen aber dasjenige so in Heisters Chirurgie Fig. III s ab. VIII zu finden, am bequemsten zu seyn scheinet: Es bestehet aus einen ledernen Rieme, einen Blechernen Hacken, und einen Blechernen Blätlein mit verschiedenen Löchern, in welchen der Hacken eingehacket wird.(...), und hiermit hält man diese Geschwüre so lang offen, bis diejenige Kranckheit, warum man die Fontanelle gemacht, curiret ist. Ja in manchen eingewurzelten Zuständen, wenn selbige nicht sollen wieder kommen, müssen dieselben lebenslang getragen werden. (...)

 

Welche Leiden dieses künstlich erzeugte Geschwür heilen sollte wird ebenso benannt:

 

"Es dienen aber die Fontanellen hauptsächlich in allerlei Flüssen und Zufällen des Haupts, derer Augen. derer Ohren, derer Zähne, der Brust u. Ingleichen in grausamen HüfftWehe und anderen Zufällen."

 

Ganz unumstritten scheint die Methode in den 1730ern nicht mehr gewesen zu sein, sonst würde das Lexikon wohl nicht auf die Kritiker ausführlich eingehen und versuchen die Zweifler, die das Ganze als Quälerei ohne Wirkung ansehen, zu entkräften. Auch scheint es durchaus zu Todesfällen gekommen zu sein- ob durch die Behandlung oder durch den an sich durch Krankheit geschwächten Körper, bleibt offen. Die Erwähnung eines blau oder schwarz verfärbten Randes und das es eben nicht mehr eitern würde klingt eher nach einer Blutvergiftung.

 

Eine abstruse Heilmethode als Namensgeber

Bisher erschien das Fontanell im Bezug auf den Arm des Herrn von Bünau noch recht harmlos, oder? Eine kleine eiternde Wunde am Arm- abstrus, aber nicht wirklich gefährlich. Im weiteren Verlauf wird es allerdings etwas schwieriger mit der Sicht auf einen "kleinen" Eingriff. Denn in anderen Ländern schien die Anwendung vor allem am KOPF sehr viel verbreiteter zu sein als in Sachsen.

 

"Es ist das Fontanell in Teutschland wenig gebräuchlich; in Italien aber und Holland pfleget man dieselbe noch öfters anzustellen..." 

  

Womit wohl auch der Name klar wird: angeblich aus dem altfranz. hergeleitet heißt es "kleine Quelle" (und im italienischen?- Fontana ist schließlich der Brunnen). Ich fürchte, der eigentliche Ursprung dieses Namens ist niemandem mehr klar und man könnte ihn als eine herzliche Form für eine "Quelle der Freude" völlig missverstehen...

 

Mit der Verwendung am Kopf wird der Zusammenhang mit der Fontanelle des Babys verständlich und wie es dazu kam, das das Cranium bei Kleinkindern als Fontanelle bezeichnet wird. Man wusste bereits damals, das diese Stelle bei Kindern dünner ausgebildet ist- und genau dort wurde für den Kopf, auch bei Erwachsenen, die effektivste Stelle für das Ansetzen einer Fontanelle angesehen. Dadurch ergibt sich allerdings ein kleines Problem- um die beste Wirkung gegen Kopfschmerz, Schlaganfall, Schwindel und verlorenes Gedächtnis bei Erwachsenen zu erzeugen, muss man möglichst nah an die ehemalige Situation des Craniums- den dünnen Knochenaufbau- herankommen. Die Behandlung mit einer Fontanelle wird Namensgeber für die dünne Stelle am Babykopf, das Lexikon spricht eindeutig davon, das die Anwendung am Cranium erfolgen kann, nicht, das der Name von der Stelle des Babykopfes hergeleitet wird! Ob die heutigen Hebammen wissen, das der Begriff von einer Heilmethode nach Galen abstammt und mit der "kleinen Quelle" ein künstlich erzeugtes Geschwür gemeint ist? Welch Wendung in dieser Geschichte!

 

Ab diesem Punkt bin ich übrigens froh, das wir in der Moderne leben und solche Methoden nicht mehr angewendet werden. Die extremste Form der Fontanelle erinnert stark an Behandlungen wie die Trepanation oder andere Angriffe auf das menschliche Gehirn im Laufe der Evolution. Man hätte Ihnen die Kopfhaut geöffnet und mit einem Brenneisen versucht, den Knochen "dünner" zu machen. Danach hätten Sie eine eiternde Wunde ertragen müssen, und dies in Zeiten, als weder Schmerzmittel noch Antibiotika existierten. Und das alles, um z. B. Kopfschmerzen zu behandeln...

 

Es bleibt wohl nur eine Frage offen: Wenn Sie das nächste Mal ein Baby im Arm halten und die Mutter weist sie auf den empfindlichen Kopf hin- wird Ihnen wieder einfallen, woher der Begriff kommt? Ich finde es spannend, wie eine wohl 300 Jahre alte Mumie eines Herrn von Bünau mich auf die neuen, kleinen Leben in dieser Welt gebracht hat- ein seltsamer Zusammenhang von Werden und Vergehen im Kreislauf des Lebens, verbunden durch Krankheit und den Versuch der Heilung mit dem Wissen der jeweiligen Zeit. Vielleicht ist dies ja der Abschluss dieses Artikels:

 

Geschichte ist Evolution.